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  leseprobe »ungeheuer«

„Gestern Abend wurde in einem Waldstück bei Wesenberg im Landkreis Mecklenburg-Strelitz die Leiche einer Frau gefunden. Nach Polizeiangaben handelt es sich um die seit Samstag vermisste Sandra Gerber aus Neustrelitz ...“
Hastig drehte der Mann das Autoradio lauter. Sein Blut rauschte in den Ohren, während er sich bemühte, kein Wort des Nachrichtensprechers zu verpassen.
„... Campingurlauber fanden den nackten Leichnam beim Pilzesuchen. Die Polizei wollte Berichte, der Leiche seien Organe entnommen worden, nicht kommentieren. Die Bekleidung des Opfers und ihre Handtasche sind bis jetzt noch nicht aufgefunden worden. Hörer im Sendegebiet, die sachdienliche Hinweise geben können, werden gebeten, unter folgender Nummer anzurufen...“
„Ihr habt was vergessen.“ Der Mann versuchte, ruhiger zu atmen, während der Sprecher weitere Nachrichten verkündete. „Der Schmuck der armen kleinen Sandra ist auch verschwunden. Alles ist weg, nur die sterbliche Hülle war noch da.“ Er setzte wegen des besseren Klangs noch ein „Trallalla“ hinzu und musste über seine Albernheit lachen.
Das war ja hochspannend. Obwohl er erwartet hatte, dass die Leiche relativ schnell gefunden werden würde, war es doch ein Schock, im Autoradio davon zu hören.
Er war wieder auf dem Weg nach Hause. Das Tagwerk war vollbracht, vier Arztpraxen hatte er abgearbeitet. Nun schnell zurück zu den aufregenden kleinen Trophäen. Zu Internet und Tagesschau. Es musste doch noch mehr interessante Neuigkeiten über den Leichenfund geben. Würden die Bullen zugeben, dass dem Opfer Körperteile entnommen worden waren? Manchmal behielten sie solche Einzelheiten auch für sich, um einen Täter damit zu überführen. Das Problem war nur, dass die Pilzsucher schon Details ausgeplaudert zu haben schienen. Egal, zu ihm führte jedenfalls keine Spur.

Die Gebärmutter sah aus wie eine rotbraune Birne. Zäh tropfte Polyethylenglykol durch das Sieb in die darunter befindliche Plastikschale. Die Enden der Gewebefasszange schnappten nach dem festen Fleisch. Der Mann drehte das Organ vorsichtig und betrachtete die Oberfläche mit der Lupe.
Es sah aus wie ein zu lange gebratenes Rumpsteak. Aber er hatte ja nicht vor, das Teil zu essen. Weder dieses noch irgendein anderes. Er war Doctor Nex, nicht irgendein dahergelaufener Kannibale.
Eigentlich hatte er geplant, die Objekte bis zum Wochenende in der klaren Konservierungsflüssigkeit liegen zu lassen, aber der Radiobericht über den Leichenfund hatte die Lust in ihm geweckt, ein wenig daran zu arbeiten. Noch war er sich über die endgültige Form seiner Kreation nicht im Klaren. Ein Kunstwerk entstand im Schaffensprozess des Künstlers, nahm erst allmählich Gestalt an, veränderte sich, wuchs und gedieh.
Er beugte sich nach vorn und schnüffelte. Alkohol und ein Hauch Süße. Keine Verwesung, keine Zersetzung. Das Konservierungsmittel war perfekt. Nur kurz schweiften seine Gedanken zu der nächtlichen Szene im Wald. Unruhige Chirurgenfinger hatten warmweiche Darmschlingen beiseite gedrängt, getastet, geschoben und gedrückt. Der Geruch nach mit Blut vermischter, angedauter Nahrung hatte ihm körperliches Unbehagen bereitet, zumal er sich weiter als gedacht in den Bauch hatte hineinarbeiten müssen. Die Gebärmutter war tiefer im Beckenraum verborgen gewesen, als er es sich nach seinen verblassten anatomischen Kenntnissen vorgestellt hatte. Dafür war sie nicht so festgewachsen wie der Magen und hatte sich leichter entfernen lassen. Es konnte nichts schaden, sein diesbezügliches Wissen in den nächsten Tagen ein wenig aufzufrischen.
Sein Blick schweifte zu der großen Tupperdose, während er das kleine, zähe Organ mithilfe der Zange in die Sezierschale bugsierte. Einen Magen würde Doctor Nex nicht noch einmal mitnehmen. Erstens war das Teil zu groß, zweitens zu ledern und drittens bot es einen widerlichen Anblick. Beim Ausspülen des Inhalts hatte er mit dem Brechreiz kämpfen müssen. Sauer riechende, an Eintopf erinnernde Brühe war in den Ausguss geschwappt und klebrige Bröckchen verstopften fast den Abfluss. Die weißlichen, schleimigen Wülste im Innern des leeren Magens hatten ihn geekelt. Nein, ein Magen war definitiv kein passendes Objekt für das Kunstwerk des Doctors Nex.
Der Mann rückte die Sezierschale zurecht und lächelte abwesend. Fast zärtlich strich das Skalpell über die Oberfläche der Gebärmutter. Rotbraun öffnete sich ein Maul in dem muskulösen Fleisch. Tiefer glitt die Klinge hinein, weiter klaffte der Spalt. Schließlich durchdrang die Schneide eine feste, innere Schicht. Der Mann zog die Ränder auseinander, musterte das Innenleben und schnitt an den beiden Längskanten noch etwas weiter ein. Das aufgeklappte Organ glich jetzt einem Schmetterlingssteak. Er fixierte die Ränder mit Präpariernadeln und verteilte dann großzügig Konservierungsflüssigkeit darüber. Fertig. Jetzt musste das Ganze zurück in den Kühlschrank und morgen konnte er sich das Herz vornehmen.
Der Mann zog seinen Laborkittel aus und brachte das Kleidungsstück zum Wäschekorb. Es sah zwar von weitem noch sauber aus, aber Doctor Nex legte Wert auf klinische Reinheit. Und es hingen noch mehrere, makellos gebügelte Exemplare im Schrank.

 
 
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