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  leseprobe »sündenkreis«

„Vorsicht!“ Obwohl niemand in der Nähe war, flüsterten die drei Kinder. Der größere der beiden Jungs hatte die Strickmütze tief ins Gesicht gezogen und den Schal mehrfach um den Hals gewickelt. Dampfschwaden entschwebten seinem Mund, während er den Strahl seiner Taschenlampe über den Boden schwenkte. „Da liegen überall Glassplitter rum.“ Die anderen beiden nickten. Auch sie trugen Mütze, Schal und Handschuhe. Auf dem Rad pfiff einem der Wind schon nach wenigen Minuten durch sämtliche Kleidungsschichten und wenn man nicht warm genug angezogen war, fraß sich die Kälte schnell bis auf die Haut durch. Und so trugen Paul und Sebastian brav ihre Strickmützen und die dicken Schals, obwohl sie das sonst ihrer Freundin Helene überließen. Aber Helene würde sie nicht bei den anderen anschwärzen und sich über sie lustig machen. Sie konnte glatt als Junge durchgehen. Sonst hätten sie das Mädchen wohl auch kaum auf ihre Entdeckertour mitgenommen.
Die drei waren froh, dass kaum Schnee lag, sonst wäre der Ausflug mit den Rädern nicht möglich gewesen. Und zum Laufen war es zu weit. Aber das verfallende Dorf faszinierte sie seit dem Sommer, als die letzten Bewohner umgesiedelt worden waren. Paul, Sebastian und Helene mochten das Abenteuer draußen. Die Karl-May-Bücher, die ihnen Pauls Vater zum Lesen gegeben hatte, hatten ihre Spuren hinterlassen. Und in den Winterferien den ganzen Tag zu Hause zu sitzen und Computerspiele zu spielen, wie andere Kinder aus ihrer Grundschule, das war nicht ihr Ding. Von Langenhain, wo sie wohnten, bis hierher waren es nur wenige Kilometer und deshalb waren sie heute hier, um in dem, was von dem Dorf Heuerswalde übrig geblieben war, Abenteuer zu erleben – woraus auch immer diese bestehen mochten. Seit letztem Freitag hatten sie Winterferien und so ausreichend Zeit, die Abbruchhäuser zu erkunden.
In den nächsten Tagen, vielleicht schon morgen, würden die monströsen Schaufelradbagger ihren Abenteuerspielplatz dem Erdboden gleichmachen, sie würden wie eine Herde Sauropoden über das Dorf herfallen und es auffressen, um anschließend Braunkohle aus der Erde zu schaufeln. Zwar war es streng verboten, die Abrissgebiete zu betreten und sie mussten sich vor den Kontrolleuren der Tagebaugesellschaft in acht nehmen, aber gerade das machte es umso aufregender. Welches Kind ließ sich von den Ermahnungen der Erwachsenen schon abhalten, etwas Spannendes zu erleben? Sie fühlten sich wie Mescalero-Apachen, die von Feinden verfolgt wurden.
Einmal hatten sie es in letzter Sekunde geschafft, sich vor den Bauarbeitern, die in regelmäßigen Abständen alles kontrollierten, in einem baufälligen Schuppen zu verstecken. Dicht nebeneinander hatten sie durch die Spalten der Bretter gelinst, den mehligen Geruch des alten Holzes eingeatmet und gehofft, die Männer mit den lehmbeschmierten Hosen mögen vorbeigehen. Das war in den Herbstferien gewesen, als die Tage noch länger und nicht so kalt gewesen waren.
Jetzt hatten sie Februar und dies hier mochte ihre letzte Gelegenheit sein, die Geheimnisse des todgeweihten Ortes herauszufinden. Sebastian, Paul und Helene hatten heute Nachmittag ein letztes Mal den alten Dorfkonsum und danach noch eins der Fachwerkhäuser erforscht, aber außer ein paar staubigen Flaschen, einem zerbrochenen Stuhl und feuchten Zeitungen nichts Aufregendes gefunden.
„Wie spät ist es eigentlich?“ Sebastian, der Kleine, trat auf der Stelle und hielt sein Rad mit einer Hand fest, damit es nicht umkippte.
Paul schob den wattierten Ärmel nach hinten. „Halb sieben.“
„Mist. Meine Mutter macht einen Aufriss, wenn ich später als geplant heimkomme.“ Helene schlang sich die Arme um den Bauch. Sobald man stehenblieb, fror man.
„Wenn wir dreiviertel losfahren, schaffst du es zu um sieben.“ Paul richtete die Taschenlampe auf das Gebäude vor ihnen. „Wir könnten schnell noch einmal in die Kirche schauen.“
Sie waren seit dem Sommer unzählige Male in diesem verfallenden Ort gewesen, aber die Kirche faszinierte sie am meisten. Unregelmäßige Natursteine ragten wie verschieden große Kugelfische zwischen dem Mörtel nach außen. Tief ins Mauerwerk eingelassen schauten die schmalen Fenster den Betrachter mit gerundeten Augenbrauen an. Die bunten Scheiben waren längst fortgebracht worden, genau wie die Holzbänke, der dreiflügelige Altar und die geschnitzte Kanzel. Alles war verschwunden, sogar die betagten Linden hatte man schon gefällt, damit die Bagger leichteres Spiel hatten.
Paul lehnte sein Rad an einen löchrigen Lattenzaun und die beiden anderen taten es ihm nach. Sie wussten nicht, was sie sich von diesem letzten Besuch erwarteten, hatten sie doch die kleine Dorfkirche wieder und wieder besucht und inspiziert. Und doch wurden sie alle drei das Gefühl nicht los, dass heute noch ein Schatz auf sie wartete, etwas Unerhörtes; etwas, von dem sie den anderen mit stolzgeschwellter Brust würden berichten können. Und so beschlossen die drei Kinder, ihren letzten Besuch bis zur letzten Sekunde auszunutzen und dem heiligen Haus noch einmal ihre Aufwartung zu machen.
Das Gebäude glich in der Dunkelheit einem buckligen Wal. Sebastian schaltete seine Taschenlampe an und leuchtete auf das Portal. Der Eingang war mit Brettern vernagelt, aber sie wussten, dass es an der Seite noch eine zweite, kleinere Pforte gab, die nicht so gut gesichert war. Schweigend marschierten die drei Kinder um die Kirche herum. Der gefrorene Boden knarzte wie ein alter Schiffsrumpf unter ihren Tritten. Ihr Atem kristallisierte sich vor den Mündern zu weißen Dampfwolken, die sie schnellen Schrittes durchquerten. Vor dem Seitenportal angekommen, blieben sie stehen, als hielte eine unsichtbare Kraft sie zurück. Dann löste Paul sich aus der Erstarrung und klappte den Schraubenzieher aus dem Schweizer Taschenmesser aus. Sebastian leuchtete ihm. Die Tür schien lockerer als die vorhergehenden Male befestigt worden zu sein, denn schon nach wenigen Sekunden fiel sie ihnen förmlich entgegen und Paul hatte Mühe, das schwere Holzgefüge, das nun schief in den Angeln hing, zu halten. Gemeinsam drückten die beiden Jungs die Tür beiseite. Ein eisiger Hauch schlug ihnen entgegen und ließ sie frösteln.
„Na los. Worauf wartet ihr? Rein mit euch.“ Helene berührte Pauls Rücken und drückte ihn leicht vorwärts. Sebastian, der vor ihm ging, hatte seine Stablampe wieder eingeschaltet und hielt sie wie einer der CSI-Männer, wenn diese ein Haus stürmten. Sebastian fand CSI „cool“, auch wenn seine Eltern dagegen waren, dass er so etwas ansah.
Helene folgte den beiden Jungs zögernd. Sie zweifelte daran, dass sie gerade heute etwas entdecken würden, hatten sie doch die Kirche schon gründlich und vor allem bei Tageslicht inspiziert, aber sie wollte den Jungs den Spaß nicht verderben. Eisfinger krochen über ihren Rücken und sie schüttelte sich kurz. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause kamen und heißen Tee tranken.
Links vor ihr raschelten die Jungs in der Finsternis herum. Die Strahlen ihrer Taschenlampen strichen über die Wände und hoben die Unebenheiten im Mauerwerk deutlicher hervor.
„Was ist das?“ Pauls Flüstern ließ Helene erschauern. Ihre Gänsehaut breitete sich über die Arme bis zum Nacken aus.
„Wo?“ Auch Sebastian flüsterte.
„Da vorn, Mann.“ Der Lichtkegel schwenkte von der Wand weg dorthin, wo einmal der Altar gestanden hatte. „Das war doch letztes Mal noch nicht hier.“ Auch Sebastian leuchtete jetzt nach vorn und als sich die Strahlen ihrer beider Taschenlampen trafen, wurde das Bild plötzlich deutlich, als hätte es jemand herangezoomt.
Helene hörte, wie Paul einen Schrei unterdrückte. Sebastian hatte sich schon umgedreht und hastete in Richtung Portal. An der Schwelle stolperte er und die Lampe fiel ihm aus der Hand, aber er hielt nicht an, sondern rannte hinaus, als sei er dem Leibhaftigen begegnet. Jetzt hetzte auch Paul an Helene vorbei ohne sie wahrzunehmen. Er keuchte.
Wenige Sekunden später verklang das Getrappel und die Stille kehrte zurück. Helene stand wie eine Eisskulptur noch immer neben der linken Wand, nur wenige Schritte vom Portal entfernt. Obwohl sie nur ein paar Sekunden hingeblickt hatte, brannte auf ihrer Netzhaut das scharfgezeichnete Nachbild des Körpers. Eine nackte Frau, festgebunden auf einer breiten Unterlage, die schräg an die rückwärtige Wand gelehnt war. Die Arme waren zu beiden Seiten waagerecht ausgestreckt, herablaufende Blutlinien bildeten ein schwarz wirkendes Zickzackmuster auf dem Untergrund. In ihrem Bauch klaffte ein großer kreuzförmiger Schnitt. Dazu das puderweiße Gesicht, eine zu einem unhörbaren Schrei geöffnete dunkle Mundhöhle, die Augen zwei schwarze Löcher unter dem dunklen Helm der Haare.
Helene holte rasselnd Luft und besann sich, dass auch sie eine Taschenlampe besaß. Das leise Klicken holte sie ganz in die Wirklichkeit zurück. Jetzt nahm sie auch den Geruch wahr.
Eine Mischung aus Räucherkerzchen und süßem Parfüm. Dazu kam noch etwas anderes, etwas Widerliches – Helene sog schnüffelnd die Luft ein – etwas, das sie aus dem heimatlichen Schuppen kannte, wenn ihr Opa ein Kaninchen geschlachtet hatte – frisches Blut. Sie richtete ihre Taschenlampe nach vorn. Der Strahl zitterte über die Wand, an der einmal der dreiflügelige Altar gestanden hatte und Helenes kleine Hoffnung, die Frau mit dem erstarrten Schrei möge verschwunden sein, erlosch so schnell wie sie aufgekeimt war. Die Tote war noch immer da vorn; wie eine bizarre Parodie auf den gekreuzigten Jesus lehnte sie an der Unterlage, die schwarzen Augenhöhlen direkt auf das kleine Mädchen gerichtet. Der gelbe Strahl flackerte, erlosch kurz und Helene schüttelte die Batterien ihrer Taschenlampe zurecht und machte zwei zaghafte Schritte nach vorn, als sich der Mund der toten Frau noch etwas weiter öffnete, so als wolle sie etwas sagen; und noch ehe Helene erkennen konnte, dass sie einer Täuschung aufgesessen war, schrie sie schon. Sie schrie so laut und schrill, dass die wenigen Vögel, die es sich in den halbverfallenen Häusern ringsum gemütlich gemacht hatten, aufgeschreckt wurden, und davonflatterten.
„Helene!“ Paul klang kurzatmig. „Bist du noch da drin?“ Seine Stimme kam näher und Helene öffnete den Mund, um ihm zu antworten, aber es kam kein einziger Ton heraus.
„Lass uns reingehn, Mann.“ Das war Sebastian. Auch er hörte sich an wie ein verschrecktes kleines Tier. Schritte knirschten. Dann leuchtete ein Lichtstrahl herein und Pauls furchtsame Stimme gesellte sich dazu. „Helene?“
„Ja, ich bin hier.“ Jetzt war die Stimme wieder da, aber sie krächzte. Die Jungs kamen herein, die Taschenlampen wie Waffen vor sich haltend.
„Entschuldige, dass wir weggerannt sind.“ Paul berührte vorsichtig den Rücken seiner Freundin.
„Ist schon OK. Wir müssen die Polizei anrufen. Sebastian?“ Der Angesprochene reagierte nicht und Helene streckte den Arm aus und puffte ihn an der Schulter. „Gib mir dein Handy, los.“
Sebastian begann, in den Taschen zu suchen. Sein schwerer Atem hallte von den Steinwänden wider.
.„Wir werden mächtig Ärger bekommen.“ Paul versuchte, nicht nach vorn zu schauen.

„Das dürfte jetzt unser geringstes Problem sein.“ Helene hatte schon gewählt und presste sich das Mobiltelefon ans Ohr, während sie den Jungs winkte, ihr nach draußen zu folgen.
 
 
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