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  leseprobe »sensenmann«

Prolog

Die Stille vor den Plattenbaublöcken wird von Motorengebrumm gestört. Mit toten Augen starren die leeren Fenster der Häuser auf die beiden Fahrzeuge, die direkt vor dem mittleren Kubus parken. Vier Männer steigen aus, Bauarbeiter in Blaumännern, staubigen Stiefeln. Ihre Helme baumeln an ihren Armen, ihre Gespräche durchbrechen polternd die Stille. Das Haus scheint sich kurz zu schütteln und wirft seine Hitzestarre ab. Vielleicht ist es auch nur das Flirren heißer Luft über dem Betonklotz, der schon morgen abgerissen werden soll.
Der Größte, ein Zwei-Meter-Hüne, beschirmt die Augen mit der flachen Hand, blickt nach oben und mustert das leerstehende Gebäude, das sie gleich betreten werden, nichts ahnend von dem, was sie dort erwartet.
Überall liegen Glassplitter herum. In den unteren zwei Stockwerken fletschten die gezackten Ränder eingeworfener Scheiben drohend die Zähne. Der Bautrupp jedoch marschiert unbeeindruckt drauflos, ihre Stiefel wirbeln lehmgelbes Pulver aus ausgetrockneten Pfützen hoch, der Staub scheint eine Weile in der Luft zu schweben und sinkt erst ab, als die vier schon im linken Eingang verschwunden sind.

Den Gestank bemerken sie erst im vierten Stock. Einer zieht ruckartig die Luft ein, wie ein schnüffelnder Hund, dann fällt es auch den anderen auf. Eine Wolke aus Verwesung und ranzigem Fleisch, die umso stärker wird, je näher sie dem Ende des Flurs kommen. Die Bauarbeiter schauen sich an, bleiben schließlich stehen, versuchen durch den Mund zu atmen.
„Wahrscheinlich ein toter Vogel?“ Es klingt wie eine Frage.
„Das will ich hoffen.“ Der Zwei-Meter-Mann setzt sich in Bewegung. „Schauen wir nach.“ Er glaubt nicht, dass diese massiven Ausdünstungen von einem toten Kleintier verursacht werden. Das, was da verrottet, muss größer sein. An der hintersten Wohnungstür wird der Gestank unerträglich. Der kleine Dicke, der sich gewünscht hat, es möge bloß ein toter Vogel sein, schluckt mehrmals. „Ich kann das nicht.“
„Dann bleibst du mit Manfred hier draußen.“ Der Große hat das Ruder an sich gerissen. Er ist hart im Nehmen. „Holger und ich gehen rein.“
Holger nickt und streift sich die dicken Handschuhe über, ehe er den Knauf berührt. Die Tür ist nur angelehnt und schwingt langsam nach innen. Ein heißer Schwall faulig-stechender Luft quillt heraus, legt sich wie ein fettiger Film auf die Atemwege. Der Große hustet kurz. „Bringen wir es hinter uns.“
Aus der halboffenen Badezimmertür surren fette Fliegen. Ihre Körper schillern im Licht in allen Regenbogenfarben. Dem Lärm nach zu urteilen, müssen es Tausende sein. Holger schaut zuerst um die Ecke, prallt zurück. Dann schlägt er die Hand vor den Mund, würgt und taumelt rückwärts. Der Zwei-Meter-Mann denkt noch darüber nach, dass seine Kollegen alle miteinander Weichlinge sind, ehe auch er sieht, was da in der Badewanne liegt, bedeckt von diesem wimmelnden Teppich aus Fliegen und Maden, der den Anschein erzeugt, das verwesende Etwas, das einmal ein Mensch gewesen ist, vibriere im Takt des Summens.

*

Suche nach Leichen – Das Kinderheim des Grauens
Am Anfang standen die Überreste der Leiche eines toten Kindes. Inzwischen ist die Polizei auf der Kanalinsel Jersey einem Missbrauchsskandal unbekannten Ausmaßes auf der Spur. Seit 1960 sollen Angestellte des Kinderheims Haut de la Garenne über Jahrzehnte hinweg Minderjährige missbraucht und mindestens ein halbes Dutzend von ihnen getötet haben.
Auf dem Grundstück des ehemaligen Kinderheims hatte man vor zwei Wochen verweste Leichenteile eines Kindes gefunden, das vermutlich in den achtziger Jahren gestorben war. Spürhunde der Polizei entdeckten die Reste des kleinen Körpers unter einer massiven Betondecke.
Im weiteren Verlauf der Untersuchungen fanden die Beamten im Kellergeschoss des Skandalheimes vier geheime Räume, darin Handschellen, eine blutverschmierte Badewanne und Kinderzähne. In einen Holzbalken hatte jemand die Wörter: „Ich bin seit vielen Jahren böse“ geritzt.
Immer mehr Kinderleichen
Das Waisenhaus Haut de la Garenne auf Jersey sorgt weiter für schreckliche Schlagzeilen.
Von den Einwohnern des kleinen Örtchens wird das Kinderheim seit Wochen nur noch „Horrorhaus“ genannt. Nun machten Ermittler erneut einen grausigen Fund.
Im Keller des Hauses wurden weitere Überreste mehrerer Kinderleichen gefunden. Der grausige Fund bestand unter anderem aus 65 Milchzähnen und mehr als 100 menschlichen Knochenteilen, die zu Kindern im Alter von vier bis elf Jahren gehören. Darunter waren ein kindlicher Beinknochen und ein Gehörknöchelchen. Nach Polizeiangaben wurde vermutlich zwischen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre versucht, die Toten zu verbrennen, um Beweise zu vernichten.
Das ehemalige Erziehungsheim ist damit der Schauplatz eines der größten Fälle von Kindesmisshandlung auf den britischen Inseln.
Untersuchungen der Überreste ergaben, dass die Opfer wahrscheinlich ermordet wurden. Da das genaue Alter der Funde bislang nicht ermittelt werden konnte, wird es außerordentlich schwierig werden, Mordanklage zu erheben, da der Tatzeitraum nicht eingegrenzt werden kann. Die Ankündigung der Polizei, dass es womöglich nicht zu einer Anklage kommen werde, löste Proteste von Kinderschützern aus. Jerseys ehemaliger Gesundheitsminister forderte, dass die britische Regierung in die Ermittlungen eingreifen solle.

Die „Bestie von Jersey“
Jahrelang hatte es im beschaulichen St. Martins Gerüchte über schwerste Misshandlungen im dortigen Kinderheim gegeben. Doch erst seit Polizisten einen Kinderschädel und weitere Leichenteile auf dem Gelände fanden, kommen immer mehr grausige Details ans Licht.
Auch der pädophile Serientäter Edward Paisnel, genannt die „Bestie von Jersey“, habe das Heim des öfteren aufgesucht.
Edward Paisnel hatte in den sechziger und siebziger Jahren ganz Jersey in Panik versetzt. Elf Jahre lang soll er Kinder nachts in ihren eigenen Betten brutal überfallen und vergewaltigt haben. Er quälte seine Opfer unter anderem mit nägelbewehrten Armbändern, verbarg dabei sein Gesicht hinter einer Gummimaske.
Jetzt bringen britische Medien ihn mit den Knochenfunden in dem ehemaligen Kinderheim in Verbindung. Bereits 1972 hatte Paisnels Ehefrau von Besuchen ihres Gatten in dem Waisenhaus berichtet. Er habe sich bei dabei oft als Weihnachtsmann verkleidet, mit den Kindern gespielt und sie gebeten, ihn „Onkel Ted“ zu nennen, schrieb sie in einer Biografie über ihn.
Die örtliche Polizei weist jede Spekulation über einen Zusammenhang zurück. Es gebe „keine Beweise“ für eine Verbindung Paisnels mit den Knochenfunden. Doch inzwischen sind Fotos aufgetaucht, die den pädophilen Kinderschänder im roten Pelzmantel mit angeklebtem Bart im Haut de la Garenne zeigen – mit Kindern auf dem Schoß.
Paisnel wurde 1971 wegen Körperverletzung, Vergewaltigung und Unzucht zu 30 Jahren Haft verurteilt. Er starb 1994.

Matthias sah das Bild vor sich, obwohl es nicht auf dem Monitor abgebildet war. Sein Körper fühlte verstohlene Berührungen, die Haut erschauerte unter tastenden Fingern, an seinem Hintern spürte er den unnachgiebigen Druck von etwas Festem. Er selbst saß auf dem Schoß dieses Mannes im Weihnachtsmannkostüm und konnte sich nicht wehren, während der Perverse ihm mit heiserer Stimme abstoßende Dinge ins Ohr flüsterte. Er nahm einen Schluck Cola, schmeckte nichts, zwang seine Augen, sich zu öffnen, weiterzulesen, das Unfassbare aufzunehmen und in seinen Kopf zu schicken, wo all die verschlossenen Erinnerungen darauf warteten, dass er den Schlüssel fand und sie herausließ.
Mehr als fünfzig ehemalige Heimkinder aus Haut de la Garenne hatten sich inzwischen bei der Polizei gemeldet. Mehr als fünfzig Zeugen der schrecklichen Ereignisse, die nach ihren Angaben in dem früheren Kinderheim vergewaltigt oder misshandelt worden waren. In Matthias’ Brustkorb rasselte es bei jedem Atemzug. „Mehr als fünfzig“ – und das war sicher nur die Spitze des Eisbergs.
Wo sind eigentlich deine Leidensgenossen? Es kann doch nicht sein, dass du der Einzige bist, der sich an Quälereien und Misshandlungen in deinem Kinderheim erinnert! Matthias schluckte trocken. Er war nicht allein. Sein Körper erinnerte sich an alles, was ihm zugestoßen war, auch wenn er nicht bewusst auf alles zurückgreifen konnte.

Es gab nur eine Möglichkeit, weiterzukommen. Er musste weitere Heimkinder befragen. Vielleicht konnten sie seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Hatte Sebastian Wallau nicht geschrieben, dass mehrere Ehemalige mit ihm Kontakt aufgenommen hatten? Der Brieffreund hätte sicher nichts dagegen, ihm die E-Mail-Adressen zu geben, damit er sich mit ihnen in Verbindung setzen konnte – der alten Zeiten wegen.
In der Zwischenzeit wollte Matthias Hase sich um den Mann kümmern, dessen Name etwas, wenn auch nur Verschwommenes, in ihm geweckt hatte: Rainer Grünkern.

 
 
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