Übersicht
  Dem Leben entrissen
  Die kleine Detektivschule
  Dunkelhaft
  Er hätte weiter gemordet
  Eiseskälte
  Kind vermisst
  Leichenstarre
  Mord-Ost
  Mords-Sachsen
  Mords-Sachsen 2
  Mords-Sachsen 3
  Mords-Sachsen 4
  Mords-Sagen
  OWL kriminell
  Rachegöttin
  Sensenmann
  Suendenkreis
  Ungeheuer
 
  leseprobe »kind vermisst«

Nach der Arbeit fuhr er mit dem Leihwagen zu einer Tankstelle. Hier gab es die beste Möglichkeit, das Auto von oben bis unten zu inspizieren und von eventuell noch anhaftenden Spuren zu befreien.
Schließlich hatte die kleine Elfe auf dem Beifahrersitz gesessen.
Zwar hatte er schon am Sonnabend, unter dem Vorwand, tanken zu wollen, eine gründliche Reinigung durchgeführt, aber ein zusätzlicher Check konnte nicht schaden.
Nach der Rückgabe hätte er nichts mehr damit zu tun, und neue Nutzer würden ihre Fasern, Haare und Schuppen hinterlassen.
Es war nicht die Angst, dass sie ihm auf die Schliche kommen könnten, die ihn zur gewissenhaften Säuberung antrieb, sondern der Wunsch nach Perfektion.
Natürlich hatte es keine gravierenden Fehler gegeben, durch die doppelte Kontrolle vermied er aber später zwanghafte Grübeleien.

Das volle Programm in der Waschanlage dauerte fast eine Viertelstunde. Wichtig waren vor allem die Reinigung der Räder und die ausgiebige Unterbodenpflege, um Reste des Waldbodens abzuspülen. Danach saugte er den gesamten Innenraum zweimal aus, wusch die Fußmatten ab, leerte den Aschenbecher und inspizierte den Kofferraum.
In der Werkstatt würden sie sich vielleicht wundern, dass das Auto so gepflegt zurückkam, aller Wahrscheinlichkeit nach aber eher erfreut sein, sich die Reinigung sparen zu können.
Er machte sich auf den Weg.

„Würden sie bitte noch einen Moment Platz nehmen, wir machen ihnen die Rechnung gleich fertig“, säuselte die Angestellte hinter dem Empfangstresen. „Möchten sie einen Kaffee trinken?“
Im Verkaufsraum herrschte gähnende Leere. An dem kleinen runden Tischchen sitzend, schlürfte er, eine Zigarette rauchend, das dünne Gebräu, das ihm serviert worden war und beobachtete dabei, wie ein Mitarbeiter den Leihwagen vom Parkplatz fuhr und kurz darauf sein Auto an diese Stelle rollte.
Gedämpfte Musik lullte ihn ein, seine Augenlider senkten sich im Zeitlupentempo nach unten und bleierne Müdigkeit erfüllte den ganzen Raum.

„Und nun die Nachrichten aus der Region. Am späten Vormittag wurde heute die Leiche eines Mädchens in einem Waldstück nahe Rebau entdeckt.“
Ruckartig wurde er aus seiner Schläfrigkeit gerissen. Angestrengt, um nichts zu verpassen, lauschte er den leisen Wortfetzen.
„Nach Polizeiangaben handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um die neunjährige Annie Singer, die seit Freitag nachmittag vermisst wird. Ein Verbrechen wird nicht ausgeschlossen. Nähere Einzelheiten wurden nicht bekanntgegeben. Gestern abend ereignete sich auf der Autobahn ...“

Sie hatten die Leiche gefunden?
Ungläubig schüttelte er den Kopf. Es musste sich um einen Irrtum handeln.
Sie war doch tief genug vergraben gewesen. Und die Stelle in der Schonung war so schwer zu erreichen, dass sich fast nie jemand dorthin verirrte.
Er hatte geglaubt, monatelang, im besten Fall sogar Jahre Ruhe zu haben. Dann wäre die Verwesung so weit fortgeschritten, dass eine Identifizierung schwer würde und keine Einzelheiten der Tat mehr erkennbar wären. Niemand hätte noch verwertbare Spuren gefunden.
Es konnte sich einfach nicht um Annie handeln! Verzweifelt sah er sich um.
Was glaubst du, wie viele Kinderleichen in der Nähe von Rebau im Wald vergraben sind?
Sarkastisch machte die innere Stimme seinen Hoffnungen den Garaus.
„Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen aus, als ob Ihnen schlecht wäre.“
Den Angestellten, der mit der Rechnung näher gekommen war, hatte er gar nicht wahrgenommen.
„Die Hitze“, stammelte er, „ich vertrage die Hitze nicht.“
„Soll ich Ihnen ein Glas kaltes Wasser bringen?“
„Nein. Nein, es geht schon wieder“, wehrte er den besorgten Mann ab.
Er musste schleunigst raus aus diesem Gewächshaus, um irgendwo in Ruhe nachdenken zu können. Hastig bezahlte er, ohne die Erklärungen des Mitarbeiters über die durchgeführten Reparaturen wahrzunehmen, die dieser eilfertig abgab. Mit gehetzten Schritten verließ er das Autohaus, setzte sich in seinen Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen davon; verfolgt vom Kopfschütteln des Angestellten.

Auf dem nächstgelegenen Parkplatz stellte er sein Auto unter die Bäume. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren und blies kalte Luft in das Innere, die die Schweißperlen auf seiner Stirn trocknen ließen. Allmählich kehrte die Farbe in sein graues Gesicht zurück, und der Pulsschlag verlangsamte sich.

Du darfst dich nicht jedesmal so aufregen, wenn du etwas von der Kleinen hörst. Irgendwann fällt dein komisches Verhalten einmal den falschen Leuten auf.
Beruhige dich. Überlege, was als nächstes zu tun ist. Geh alle Möglichkeiten systematisch durch.

Er lächelte. Die Stimme der Vernunft hatte wie immer recht. Es war ganz unsinnig gewesen, sich so zu echauffieren, denn es hatte keine Fehler gegeben. Er bedachte immer alles.
Seine Schneidezähne fanden am Fingernagel des linken Zeigefingers noch ein Restchen, auf dem sie solange zupften und herumbissen, bis es sich lösen und abziehen ließ. Die Zunge schob es zu den Backenzähnen, die es zu Pulver zermalmten.
Ein unglücklicher Zufall, dass sie die Leiche jetzt schon gefunden hatten. Sie würden ihm trotzdem nicht auf die Schliche kommen. Niemand konnte das.
Er klopfte sich eine Zigarette aus der Schachtel, deren Inhalt sich schon wieder bedenklich dem Ende zuneigte und genoss den strengen Duft der Rauchschwaden.

Die erste Aufgabe war, genaue Auskünfte zu bekommen, ohne dabei aufzufallen. Wie konnte es geschehen, dass die Leiche entdeckt wurde, wenn sie doch vergraben worden war?
Von wem war sie gefunden worden, und aus welchem Anlass hatte sich derjenige dorthin begeben?
Die Regionalnachrichten waren für sein Informationsbedürfnis unzureichend. Zeitungen würden frühestens morgen von dem Fund berichten.
So bliebe ihm wohl nichts anderes übrig, als sich mit seiner Frau vor den Fernseher zu setzen, die von ihr so heißgeliebten Boulevardmagazine über sich ergehen zu lassen und ihre unablässigen unqualifizierten Kommentare zu ignorieren.
Dafür musste er sich vorher gut wappnen, um nicht durch zuviel Interesse an dem Thema ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Es wäre sicher vorteilhaft, in den nächsten Tagen den Besuch bei seiner Mutter nachzuholen, der vergangenen Freitag ausfallen musste, weil ihn auf dem Weg dorthin die kleine Elfe abgelenkte hatte.
Lauenborn war das Nachbardorf von Rebau und solch ein Fund sprach sich in Windeseile herum. Sicher waren in dem Tratsch auch brauchbare Informationen über die Ermittlungen und Erkenntnisse der Polizei enthalten. Seine Mutter würde ihn schon an der Tür mit der grausigen Nachricht überfallen und keine Einzelheit auslassen.
Wenn er den kleinen Umweg über die Autobahn nahm, musste er nicht einmal am Elternhaus der kleinen Annie vorbei, obwohl ihm das Gelegenheit gegeben hätte, die Anfangssequenzen seines Filmes aufzufrischen, die sich in der Erinnerung schon verwischten.

Und einen Blick auf die süße, kleine Schwester zu erhaschen.

Er rief sich zur Räson.
Erstens war es unwahrscheinlich, dass es sich bei dem vierten Familienmitglied gerade um eine jüngere Schwester handelte, zweitens würden sie diese, nachdem feststand, was mit der anderen passiert war, wohl kaum draußen herumlaufen lassen.
Und drittens wollte er nicht ohne triftigen Grund in Tatortnähe gesehen werden, wenn auch mit einem anderen Auto. Das Risiko war einfach zu groß.

Es gab sicher eine andere Möglichkeit, herauszufinden, ob noch so eine kleine Elfe in dem Haus wohnte. Und wenn dann etwas Gras über die Sache gewachsen war ...
Der Gedanke daran, wieder so etwas Zartes in die Finger zu bekommen, ließ seinen Puls rasen, obwohl er geglaubt hatte, mit seinem Film und der kleinen Trophäe ein paar Wochen beschäftigt zu sein. Leider verblassten die Bilder schneller als geglaubt. Echte Fotos dagegen konnte man immer wieder hervorholen und sich erneut daran erfreuen. Sie verloren keine Einzelheit, auf die es ankam.

Was meinst du, wer solche Filme entwickelt, ohne stutzig zu werden? Da kannst du dich auch gleich freiwillig bei der Polizei melden, höhnte die innere Stimme.
„Und wie wäre es mit Polaroids?“, entgegnete er sich selbst. Die musste man nicht entwickeln lassen, und sie hatten den Vorteil, dass man gleich sehen konnte, ob sie den Erwartungen entsprachen. Und – es gab keine Negative, die einem gefährlich werden konnten.
Was für ein faszinierender Gedanke! Das hätte ihm auch schon eher einfallen können, aber es würden sich noch genügend Möglichkeiten ergeben, sein Vorgehen zu verfeinern, dessen war er gewiss.

„Wir werden sehen“, murmelte er und betätigte den Anlasser.
Nun schnell nach Hause zu den Boulevardmagazinen.

 
 
Home
Lesungen
Workshop
Presse
Hören
Vita
Kontakt + Impressum
    LINKS