Übersicht
  Dem Leben entrissen
  Die kleine Detektivschule
  Dunkelhaft
  Er hätte weiter gemordet
  Eiseskälte
  Kind vermisst
  Leichenstarre
  Mord-Ost
  Mords-Sachsen
  Mords-Sachsen 2
  Mords-Sachsen 3
  Mords-Sachsen 4
  Mords-Sagen
  OWL kriminell
  Rachegöttin
  Sensenmann
  Suendenkreis
  Ungeheuer
 
  leseprobe »dunkelhaft«

Hör auf zu heulen, blöde Kuh. Das hilft dir auch nicht weiter. Denk nach. Tu irgendwas.
Tu irgendwas. Gut gesagt. Aber was zum Teufel sollte sie tun? Helene hatte keine Ahnung, wo sie hier war.
Was könnte es denn sein, Heulsuse?
Sie krächzte die Worte laut heraus. „Was könnte es sein?“
Wenn die Überlegungen zu ihrer Sehkraft eben logisch gewesen waren, dann konnte sie theoretisch etwas sehen. Praktisch sah sie nichts, weil es stockdunkel war.
So weit waren wir schon. Und du bist anscheinend nicht zu Hause. Wo könntest du dann sein?
Das Mädchen zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augenwinkeln. Ihre Muskeln fühlten sich wie nach zehn Stunden Sportunterricht hintereinander an. Wieso war sie so entkräftet?
Du bist krank. Das ist es.
Wahrscheinlich hatte sie Fieber. Fieber ging einher mit Gliederschmerzen. Sagten sie das nicht immer in der Werbung für Erkältungsmittel? Konnte es also sein, dass sie vielleicht in einem Krankenhaus lag? Und, um sie nicht zu stören, hatten die Ärzte völlige Dunkelheit angeordnet? Ein Krankenhaus. Das war es. Helene Reimann war krank. Deshalb lag sie nicht in ihrem Bett daheim. Gott sei Dank.
Sie war aus irgendeinem Grund krank geworden. Nichts, was man nicht wieder einrenken konnte. Man kümmerte sich um sie. Sie konnte jederzeit nach der Schwester klingeln.
Das Mädchen holte tief Luft und seufzte beruhigt.

Ein Krankenhaus, soso. Was für ein Scheiß, wirklich.
Helene hob die kraftlosen Arme und hielt sich die Ohren zu. Nicht zum Aushalten war das. Die Stimme wollte heute gar keine Ruhe geben.
In jedem Krankenhaus gibt es Nachtlichter. Die Schilder für Fluchtwege sind beleuchtet. Grün. Es ist nie – ich wiederhole – NIE – ganz dunkel. Was, wenn ein Patient mal raus muss? Soll er aus dem Bett stürzen, weil er in der Finsternis über etwas stolpert? Also vergiss es.
„Verfluchte Scheiße! Halt doch einfach dein loses Maul, ja. Was soll es denn sonst sein?“
Also Helli, ich sehe da zwei Möglichkeiten. Erstens – du bist komplett verrückt geworden.
„Verrückt, na danke schön. Was ist das andere?“
Da kommst du doch selber drauf, Babe. Wie viele Varianten gibt es denn noch? Streng deinen Grips an.
Helene kniff die Augen fest zusammen und versuchte nachzudenken, aber die Gedanken in ihrem Kopf wirbelten durcheinander wie das Kartenspiel aus Alice im Wunderland. Ihre innere Stimme schwieg. Sie legte die Handflächen über die Augen und rekapitulierte die Lage. Lichtloser Raum. Schaumstoffmatratze. Billige Wolldecke. Kein schlechter Traum. Keine Ahnung.
Wie wär´s denn mit ‘eingesperrt’?
Das letzte Wort schien in Helenes Kopf widerzuhallen. Ein – ge – sperrt. Es klang nicht besonders schön.
Wie meinst du das, eingesperrt?
Na eingebuchtet. Verlies, Haft, Zelle, Kerker, capito?
Das Mädchen schüttelte in der Dunkelheit rhythmisch den Kopf. Glaub´ ich nicht. Glaub´ ich nicht. Glaub´ ich nicht.
Das ist das einzige, was in Frage kommt. Alles andere ist Humbug, Baby. Du bist wach. Und du bist eingesperrt. Dunkelhaft sozusagen.
Wer sollte mich einsperren wollen?
Also, das weiß ich nun auch nicht, Süße. Ich bin nur deine innere Stimme. Denk selber nach.
Nachdenken, schon wieder. Das war doch hier kein schlechter Horrorfilm, in dem Mädchen gekidnappt und im Keller gefangen gehalten wurden.
Vielleicht ist es genau das?

Wieder begannen die Tränen hervorzuquellen. Zum Glück sah keiner, dass Helli-Babe, begehrte Freundin und Schwarm aller Jungs zwischen vierzehn und achtzehn, hier herumflennte wie ein alter Waschlappen.
Wenn es wirklich so ist ... Helenes Gedanken stockten und kamen wieder ins Trudeln. Sie rief sich zur Räson. Wenn es also tatsächlich so ist, wie ich denke, was bedeutet das dann?
Es bedeutet, jemand hat dich gekidnappt und hier eingesperrt.
Jemand.
Wann und warum hatte JEMAND Helene Reimann entführt?
Sie versuchte sich die letzten Stunden ins Gedächtnis zurückzurufen. Frühstück zu Hause. Das Mädchen sah die blaue Schüssel mit den winzigen weißen Punkten vor sich. Braune Schoko-Pops schwammen träge durch einen See aus Milch. Sie saß allein auf dem Barhocker in der Küche. Mama war schon auf Arbeit. Die Erinnerung an das Frühstück schien in Ordnung zu sein.
Gut Helli. Und weiter.
Nach dem Frühstück kam die Schule. Normalerweise traf sie sich mit Sarah und sie zogen gemeinsam los. Im Sommer, wenn das Wetter schön war, liefen sie die drei Kilometer in den nächsten Ort. Man konnte ein paar Zigaretten rauchen und über die Jungs herziehen. Im Winter oder bei Regen nahmen sie den Schulbus. Die Schule war öde. Täglich der gleiche blöde Trott. Die Schüler schlugen die Zeit tot und hofften, ohne Leistungskontrollen über den Tag zu kommen.
Lenk nicht ab. Denk weiter nach. Du warst in der Schule. Was kam dann?
Danach wollte Sarah ein Eis essen gehen. Also waren sie losgezogen. Dann hatten sich die Wege der beiden Freundinnen getrennt. Sarah wollte noch zum Tennis und Helene hatte sich auf den Heimweg gemacht.
Hatte sich auf den Heimweg gemacht.
Hier endete der Film. Danach kam nichts mehr. Irgendwann in der Vergangenheit hatte sich Helli-Babe von ihrer Freundin Sarah verabschiedet und war losgelaufen. Das konnte gestern gewesen sein, das konnte vorgestern gewesen sein, das konnte vor einer Woche gewesen sein.
Wie lange war sie eigentlich schon hier? Und viel wichtiger – wer hatte sie hier eingesperrt?
Die renitente Stimme wollte noch eine Frage stellen, aber Helene verbot ihr das Wort. Sie wollte jetzt auf gar keinen Fall darüber nachdenken, wozu man sie hier festhielt. Nein, nein, weg damit. Eins nach dem anderen.
Zurück zum Anfang. Seit wann lag Helli auf dieser stinkenden Matratze? Sie tastete an ihrem linken Handgelenk nach der Uhr, fand aber nichts. Na schön, ihre Uhr war auch weg. Es gab also derzeit keine Möglichkeit, festzustellen, wie lange die Dunkelhaft schon andauerte. Sie kam irgendwie nicht weiter, in ihrer Erinnerung fehlten ein paar Szenen.
Das Mädchen versuchte, zu schlucken. Ihr Mund fühlte sich an, wie die Wüste Gobi. Wenn es nach ihrem Durst ging, lag sie schon mehrere Tage hier. Und ihre Blase drückte auch. Ganz toll, Helli. Bitteres Würgen stieg den Hals nach oben, aber das Mädchen zwang es zurück.
Gib nicht auf. Du bist doch die toughe Helene. Dir macht keiner was vor. Denk nach. Du solltest dir schnellstens etwas einfallen lassen, um hier rauszukommen. Vielleicht fängst du damit an, den Raum zu erkunden.
„Den Raum erkunden, gute Idee.“ Die ängstliche Kleinmädchenstimme hallte von den im Finsteren verborgenen Wänden des Gefängnisses wider.

 
 
Home
Lesungen
Workshop
Presse
Hören
Vita
Kontakt + Impressum
    LINKS