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  leseprobe »Er hätte weiter gemordet«

„Tödliche Lust”

Ein Mann wird vermisst

Am Montag, dem 6. November 2006, meldet sich ein Mann beim Polizeirevier einer norddeutschen Stadt. Er ist Inhaber eines Sanitätshauses und vermisst einen seiner Mitarbeiter. Andreas R. gilt als sehr zuverlässig. Der Chef kann sich nicht erklären, warum sein Angestellter am Morgen nicht zur Arbeit erschienen ist. Er hat inzwischen bei Andreas R. vorbeigeschaut. Das Auto des Vermissten steht vor dem Wohnhaus, er öffnet jedoch nicht. Nun sorgt sich der Chef um seinen Kollegen. Vielleicht ist etwas passiert? Die Polizei macht sich auf den Weg.
Am Wohnort werden zuerst die Nachbarn befragt. Die Beamten erhalten die Telefonnummer eines Freundes von Andreas R., mit dem dieser am Wochenende auf dem gemeinsamen Boot gearbeitet haben soll. Der Freund wird angerufen. Er hat den Vermissten am Samstag, dem 4. November, gegen 18 Uhr zum letzten Mal gesehen. Durch ihn erhalten die Beamten die Handynummer von Andreas R.; sie versuchen anzurufen, erreichen jedoch niemanden. Auch auf dem Boot ist der Gesuchte nicht. Gleichzeitig schicken sie einen Beamten zur Adresse der Mutter, diese ist jedoch nicht zu Hause.

Die Polizei begibt sich zurück zum Wohnhaus von Andreas R. und inspiziert den Keller, doch auch hier finden sie den Gesuchten nicht. Schließlich entscheiden die Beamten, dass die Wohnung geöffnet werden muss, da ein Unglücksfall nicht ausgeschlossen werden kann. Ein Schlüsseldienst wird angefordert. Gegen 17.20 Uhr öffnet dieser die Wohnungstür. Sie ist nicht verschlossen, der Schlüssel steckt von innen. Beschädigungen an der Tür können die Beamten nicht feststellen.
Gleich nach dem Betreten des Flurs stellen die Polizisten einen unangenehmen Geruch, der sie an Lösungsmittel erinnert, fest. Die Wohnung ist dunkel, die Fenster sind geschlossen. Sie durchsuchen zuerst das Bad, dann die Küche, finden aber nichts Außergewöhnliches. Im Wohnzimmer entdecken sie eine Katze, die jedoch keinen verstörten Eindruck macht. Alle Zimmer wirken aufgeräumt und sauber.
Im Schlafzimmer schließlich – von hier kommt auch der auffällige Geruch – werden sie fündig. Die Situation ist eindeutig. Kriminalbereitschaft und ein Arzt werden angefordert.

Ein mit Käsescheiben belegter Taucher

Die zwei Beamten des Kriminaldauerdienstes, die wenig später erscheinen, nehmen die Wohnung von Andreas R. gründlich in Augenschein. Auch sie finden keine Aufbruchsspuren. Sie entdecken stattdessen in mehreren Zimmern verteilt leere Plastikmüllsäcke und Kartons von Feinstrumpfhosen. In der Küche liegt ein Beutel, in dem sich zahlreiche leere Verpackungen von Käse-Scheibletten, das ist bereits in Scheiben portionierter Schnittkäse, befinden.
Das Schlafzimmer liegt gegenüber der Küche. Die Jalousien sind zugezogen. Der Blick fällt zuerst auf das ordentlich gemachte Bett an der linken Wandseite. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein großer Kleiderschrank, an dessen linker Außentür ein Din-A4 großer Zeitungsausschnitt angeklebt ist, auf dem eine dunkelhaarige Frau den Betrachter anlächelt – Werbung eines großen Elektronikmarktes für ein Notebook. Neben dem Kleiderschrank steht ein „Katzenbaum“, eine Art Podest mit mehreren Zwischenbrettern. Auf dem obersten Brett finden die Kripobeamten eine große rote Metallflasche mit der Aufschrift „Ether“, daneben einen roten Plastikbecher, Küchenrolle und ein in Folie eingewickeltes Stück Käse.
Ether ist die Bezeichnung für eine Gruppe organischer Stoffe, die ähnlich aufgebaut sind: sie enthalten die „Ether-Gruppe“ im Molekül. Umgangssprachlich bezeichnet man das am einfachsten gebaute Ethermolekül (Diethylether) nur als „Ether“ (veraltet „Äther“). Ether ist eine leicht flüchtige Flüssigkeit, die früher unter anderem in der Medizin zur Narkose eingesetzt wurde – der Stoff hat betäubende und berauschende Wirkung. Heute verwendet man Ether nicht mehr, zum einen besteht Explosionsgefahr bei Vermischung mit Luft, zum anderen gibt es starke Nebenwirkungen der Narkose wie Übelkeit bis hin zu Erbrechen.

Vor der Heizung liegt die Leiche von Andreas R. – oder besser sie „hockt“. Der Tote kniet auf dem Boden, die Arme angewinkelt, der Kopf lehnt am Heizkörper. Er trägt einen schwarz-roten Neoprenanzug, wie ihn Taucher benutzen, über den Kopf ist er ein blauer Plastikmüllsack gezogen. Die Beamten des Kriminaldauerdienstes betrachten und fotografieren Leichnam und Tatort, dann warten sie auf den Amtsarzt.

Was ist hier passiert? Sind perverse Täter in Andreas R. s Wohnung eingedrungen, haben ihn überwältigt, betäubt und ihm den Müllsack über den Kopf gezogen, sodass er daran erstickte? Aus welchem Motiv aber? Und warum haben sie alle Tatutensilien in der Wohnung zurückgelassen?

Der Amtsarzt erscheint kurz darauf. Gemeinsam mit den ebenfalls herbeigerufenen Mitarbeitern eines Bestattungsinstitutes wird die Leiche von Andreas R. nunmehr Schicht für Schicht entkleidet, um anschließend die vorgeschriebene Leichenschau durchführen zu können – die Beamten dokumentieren das Ganze mit zahlreichen Fotos.
Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt. Ein Entkleiden ist schwierig und so muss der Amtsarzt den Taucheranzug mit dem Messer aufschneiden. Darunter kommt ein hellblauer Regenmantel mit Kapuze zum Vorschein. Der Tote wird umgedreht und weiter entkleidet. Unter dem Regenmantel trägt er eine Damenstrumpfhose, eine zweite ist über die Brust gezogen.
Bei der Schicht, die nach dem Entfernen von Regenmantel und Damenstrumpfhosen sichtbar wird, reiben sich nun jedoch auch die erfahrenen Polizisten und der Amtsarzt verwundert die Augen. Es handelt sich um Käse. Der gesamte Unterleib, die Beine, sowie der Brustbereich sind komplett mit Käse-Scheiben belegt, der inzwischen an manchen Stellen zu Klumpen zusammengeschmolzen ist.
Verletzungen kann der Amtsarzt nicht feststellen. Die Leichenflecken entsprechen der Auffindesituation.
Leichenflecken, auch Totenflecke, lateinisch „Livores“, ähneln blauen Flecken bei Lebenden. Es sind blauviolette Verfärbungen der Haut, die nach dem Tod entstehen. Das Blut, welches durch den Stillstand des Herzens nicht mehr durch den Körper gepumpt wird, sackt durch die Schwerkraft in tiefer gelegene Körperregionen ab und sammelt sich dort. An den Stellen, auf die von außen Druck ausgeübt wird – zum Beispiel durch das Aufstützen am Boden – wird das Blut weggedrückt – hier bilden sich keine Leichenflecken.
Bei der Leiche von Andreas R. müssten also seiner hockenden Position nach die Leichenflecken auf der Bauchseite und an Unterarmen und Unterschenkeln auftreten – außer an den Punkten, wo der Körper den Fußboden berührte – Knie, Ellenbogen und Unterschenkel. Und genau dort befinden sie sich auch oder fehlen.
Der Personalausweis wird verglichen. Der tote Mann ist eindeutig Andreas R.
Die Polizei stellt zudem in der Wohnung folgende Gegenstände sicher: Eine Geldbörse mit 50 Euro, eine Dose Ether, die Müllsäcke und die Käseverpackungen, leere Verpackungen von Feinstrumpfhosen, eine Kontaktanzeige aus der Zeitung von Andreas R.s Schreibtisch, in der er eine „sympathische Sie“ angekreuzt hat, sowie die drei Wohnungsschlüssel.

Die Leiche wird mit sämtlichen Kleidungsstücken vom Bestatter in die Leichenhalle der Polizei gebracht. Der anwesende Amtsarzt wird die Todesbescheinigung nachreichen. Er geht jedoch jetzt schon von einem „nicht-natürlichen“ Tod aus. Bis auf den Käse ist für den erfahrenen Arzt die Situation, in der die Leiche von Andreas R. aufgefunden wird, nichts Neues. Er ahnt es gleich beim ersten Anblick: Hier muss es sich um einen „autoerotischen Unfall“ handeln.
In der Todesbescheinigung wird später stehen, dass der vermutliche Tod am 5. November gegen acht Uhr eingetreten ist. Der Mediziner kreuzt zudem bei „Anhaltspunkte für ein nichtnatürliches Geschehen“ „ja“ an. Bei Todesursache trägt er ein: „cerebrale Hypoxie im Rahmen autoerotischer Handlungen mit Dimethyletherinhalation“.
„Cerebrum“ ist der lateinische Begriff für das Gehirn. Unter „Hypoxie“ versteht man Sauerstoffmangel im Gewebe. Cerebrale Hypoxie ist also eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Die Nervenzellen sind Sauerstoffmangel gegenüber besonders empfindlich und sterben sehr schnell ab. Das Einatmen des betäubenden „Ethers“ hat die Sache beschleunigt. Ein Fremdverschulden kann ausgeschlossen werden, der Arzt kreuzt „Unglücksfall“ an. Die Käsescheiben auf dem Körper des Toten kann niemand erklären. Vielleicht gab der durch die Körperwärme schmelzende Belag dem Mann einen besonderen „Kick“.
Was aber sind autoerotische Handlungen?

 
 
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