Übersicht
  Dem Leben entrissen
  Die kleine Detektivschule
  Dunkelhaft
  Er hätte weiter gemordet
  Eiseskälte
  Kind vermisst
  Leichenstarre
  Mord-Ost
  Mords-Sachsen
  Mords-Sachsen 2
  Mords-Sachsen 3
  Mords-Sachsen 4
  Mords-Sagen
  OWL kriminell
  Rachegöttin
  Sensenmann
  Suendenkreis
  Ungeheuer
 
  leseprobe »eiseskälte«

Agnes sah die schief aufgeklebten Buchstaben auf dem weißen Blatt hin und her wackeln.
Übergabe heute 15 Uhr
Grün blinkten die Leuchtziffern: 14:05 Uhr.
Die Ampel vor ihr schaltete auf Rot. Es war kalt im Auto. Agnes schwitzte.
14:06 Uhr.
Sie zwang ihren Blick vom hämisch funkelnden Ampelauge weg zu dem weißen Beutel auf dem Beifahrersitz.
kleine Scheine in einer Plastiktüte
Der Beutel sah so harmlos aus, eine alltägliche Einkaufstüte, weiß und unschuldig.
14:07 Uhr.
Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Noch immer fuhren die Autos auf der anderen Seite.
Übergabe heute 15 Uhr
Ihr über dem Pedal angewinkelter Gasfuß schmerzte.
Alles war vorbereitet, es waren keine Staus im Radio erwähnt worden. Die Straßen waren vom frisch gefallenen Schnee geräumt.
Grün.
Agnes trat hastig das Gaspedal durch und der Wagen machte einen Satz nach vorn. Im Rückspiegel sah sie, wie sich der Fahrer hinter ihr mit der Handfläche an die Stirn schlug. Sollte er sich aufregen. Was wusste dieser Schnösel schon. Sie hetzte davon.

Autobahnraststätte Vogtland Nord letzte Parkbucht
Der Geldübergabeort war gut ausgewählt. Letzte Parkbucht.
Agnes sah die letzte Parkbucht vor sich. Sie hatten schon mehrmals auf dem Rastplatz Vogtland Nord Halt gemacht. Kaum waren sie losgefahren, musste Josephine auch schon auf die Toilette. Es schien ein Reflex zu sein. Agnes bestand darauf, nur an Raststätten, und nicht auf irgendwelchen Parkplätzen anzuhalten. Nur hier konnte man sicher sein, dass die hygienischen Zustände wenigstens einigermaßen akzeptabel waren.
Vogtland Nord war verwinkelt. Die Tankstelle, dann das Rasthaus, mehrere kleine Straßen, Einmündungen, Abzweigungen. Das Ganze umgeben von Wald. Am hintersten Ende des Rastplatzes, dort, wo selten jemand parkte, sollte sie halten.
legen sie Tüte in Mülltonne

Das würde sie tun. Den Plastikbeutel mit den kleinen Scheinen in die Mülltonne legen. Deckel auf, Tüte hinein, Deckel zu.
Im zweiten Entführerschreiben hatte nichts davon gestanden, wie und wo Josephine wieder auftauchen würde, nur die Einzelheiten zur Geldübergabe. Normalerweise musste ein Entführer ja erst einmal prüfen, ob die geforderte Summe auch enthalten war. Er musste das Geld abholen und die Scheine zählen.
Die Polizeibeamten hatten versucht, Agnes darauf vorzubereiten, dass es auch anders enden konnte. Die Psychologin hatte etwas davon geschwafelt, dass man sich gedanklich auch damit befassen müsse, dass die Entführung nur fingiert und Josephine nicht mehr am Leben sei. Ralf schienen die Thesen nicht zu überraschen. Es hatte für Agnes den Anschein gehabt, als sei er zu dem gleichen Ergebnis wie die Beamten gekommen. Sie schnaufte verächtlich.
‹Fingierte Entführung‹! Als ob ihr das nicht bewusst war! Aber momentan wollte sie keinen Gedanken daran verschwenden. Jetzt kam es erst einmal darauf an, die Geldübergabe genau nach Plan durchzuführen.
Zwickau West.
14:25 Uhr.
Agnes gab Gas und versuchte, einen Laster zu überholen. Die alte Kiste zog nicht richtig. Wenn jetzt nichts dazwischenkam, wäre sie in zwanzig Minuten da. Zu zeitig.
Übergabe heute 15 Uhr

Die Beamten hatten gesagt, sie solle die Tüte nicht sofort in die Mülltonne werfen, sondern bis zum angegebenen Zeitpunkt warten. Der Entführer, wenn es tatsächlich einen Entführer gab,
würde ganz sicher nicht vor fünfzehn Uhr aufkreuzen, um es sich zu holen.
Vielleicht wartete er auch schon auf dem Rastplatz. Das schien Agnes eher wahrscheinlich. So ein Entführer ging doch kein Risiko ein. Im Brief hatte gestanden: nur Josephines Mutter, keine andere Person.
Auf einem Autobahnrastplatz herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Autos hielten, Leute liefen umher, Fahrzeuge kamen an und fuhren ab. Keiner hielt sich länger als nötig auf. Man ging zur Toilette, rauchte eine Zigarette, streckte die Beine und setzte die Fahrt fort. Es würde nicht auffallen, wenn einer da zwei oder drei Stunden in seinem Auto saß und in der Gegend umherschaute.

Der gesamte Parkplatz Vogtland Nord wurde überwacht. Mehr wusste sie auch nicht, nicht, weder, wo die Polizisten sich aufhielten, noch wie viele von ihnen dort im Einsatz waren, nicht seit wann und nicht wie lange. Sie würden sie sehen, hatten die gesagt, falls sich eine Nachricht an der Mülltonne befand. Falls sie weiterfahren musste, irgendwo anders hin. Ein Handy war im Handschuhfach, die Nummer eingespeichert.
Sie solle losfahren und dann anrufen, aber nicht gleich vom Parkplatz aus. Der Entführer könne sonst vielleicht sehen, dass sie jemanden anrufe.
Losfahren und anrufen, die Nachricht durchgeben. Man war auf alles vorbereitet.
Die konnten sie sehen, aber Agnes würde die Beamten nicht erblicken. Sie wollte sie auch gar nicht sehen. Es wäre fatal, wenn man die Polizei sehen könnte.
keine Polizei, sonst stirbt Josephine

Wie würde ein Kidnapper reagieren, der bereits wusste, dass die Bullen von seinen Briefen informiert worden waren? Von diesem Scheiß-Detektiv, dem fetten Walross. Was hatte der Arsch sich einmischen müssen! Die Beamten gingen doch seit gestern Abend hier ein und aus. Tag und Nacht lungerte mindestens einer in der Wohnung herum. Das Telefon wurde abgehört. Der Entführer hatte nicht noch einmal angerufen. Er hätte bloß ihren Hauseingang beobachten müssen.
Sie war von Anfang an dagegen gewesen, dass der Detektiv und seine schweigsame, viel zu attraktive Gespielin überhaupt etwas erfuhren. Aber der sentimentale Ralf hatte gedacht, sie könnten ihnen helfen. Lächerlich das Ganze. Stattdessen hatte dieser hirnlose Provinzdetektiv die Bullen von dem Schreiben informiert.

keine Polizei, sonst stirbt Josephine
Der glatte Asphalt verschwamm vor ihren Augen. Agnes zwinkerte heftig, blinkte rechts und bremste.

 
 
Home
Lesungen
Workshop
Presse
Hören
Vita
Kontakt + Impressum
    LINKS